The Sheol Campaign Setting Project
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Immortal - Foe Within/Without

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Beitrag von Pangaea Di 07 Apr 2015, 23:46

Akt I

Der Wahnsinn schleicht durch deine Augen rein

Dublin


Dichte, graue Wolken hingen über der irischen Hauptstadt. Ein gelb-roter Transporter bahnte sich langsam seinen Weg durch den leichten Nieselregen. Seine Farben waren fahl und kraftlos, ein Grau der Leblosigkeit hatte sich über den Tag gelegt. Im ganzen Land hatten viele beschlossen, zu Hause zu bleiben, um mit ihren Familien einfach gemeinsam Zeit zu verbringen. Allein, auf der Rückbank des Transporters saß eine blonde, junge Frau. Sie sah schwer gezeichnet aus, apathisch, ihre Augen waren eingefallen und so zu Schlitzen geformt, als würde ihr jemand ungemein helles Licht ins Gesicht leuchten. Doch sie war mehr als hellwach. Nur die geringste äußere Einwirkung genügte, um ihr zerschundenes Inneres aus der Fassung zu bringen. Der Beifahrer las dem Fahrer laut und äußerst belustigt die Erstbefunde der Patientin, die sie beförderten, vor. Er musterte sie Kaugummi kauend dutzende Male und beurteilten jedes ihrer Körperteile als wäre sie ein zum Verkauf stehendes Stück Vieh. Er verzog seine vernarbte Mundpartie und bohrte seinen Blick in ihre Augen…

Alles lief immer wieder und immer wieder an ihr vorbei. Das was passierte. Vor mittlerweile unbestimmbarer Zeit. Es lief durch sie hindurch und hinterließ neue Wunden, die sich blau schwärzten und vermeintlich nie verheilen würden. Rom. Nichts verband sie mit diesem Ort und doch war es der, an dem alles besiegelt wurde und ihren Verfall noch stärker vorantrieb. Hinter ihr der eingestürzte Teile des Petersdoms, dessen Staub sich noch nicht gelegt hatte. Er verband sich mit ihren blutigen Wunden, die sie, auf ihren Körper herabblickend, kaum spürte. Sie sah Sophia lange nach, auch als sie schon nicht mehr zu sehen war… bis sie in sich zusammenbrach und ihr Kopf Gefahr lief, ungebremst gegen das römische, zweitausend Jahre alte Kopfsteinpflaster zu fallen. Da packte sie etwas. Es war sie selbst. Ihr anderes Ich war gegen den Boden geknallt, alles lief in tausendfacher Geschwindigkeit, ihr Körper wuchs zu und wurde zu Gras. Sie stieg empor, und ein Teil von ihr blieb dennoch dort, wo sie war. Sie schwirrte am Himmel umher und flog in unbeschreiblicher Geschwindigkeit weg. Gedanken und Erinnerungen umhüllt von blauer Schwärze holten sie aber immer wieder ein und überholten sie. Umkreisten sie. Drangen in sie ein. Sie wehrte sich wie ein entkräfteter Mensch auf offenem Meer vor dem Ertrinken. Schlug wild um sich. Sie schrie um ihr Leben.
Dann fand sie sich wieder, in einen fahrbaren Stuhl gefesselt, umringt von Menschen in Weiß, die in abgeschreckter Abwehrhaltung zu ihr standen. Ein Pfleger flüsterte dann leise „…Doktor, ... ähm … sind Sie sich sicher, dass wir keinen Exorzisten brauchen?“

Das Richmond Asylum war eingehüllt von Tau, Nebel und allmählich welk werdenden Efeu, die porös wirkenden Mauern stachen dazwischen hervor und waren Inbegriff einer Beständigkeit und Ruhe, die sich auf die Patienten übertragen sollte. Die Tage vergingen wie im Flug. Jeder Tag glich dem anderen. Sie bekam kaum jemanden zu Gesicht, nur der Pfleger namens Brandon, der ihr morgens, mittags und abends das Essen auf ihr Zimmer brachte. Das Essen warf sie regelmäßig kommentarlos gegen die Wand. Groteskerweise aber drehte sich jeder Tag um das Essen. Einen normalen Lebensrhythmus sollte das simulieren. „…das wird gut für sie sein…“, hörte sie in ihrem Hinterkopf noch einige Wortfetzen ihrer ersten Visite. Man arbeitete sich vom Frühstück zum Mittagessen vor, zählt dann die Stunden bis zum Abendessen um dann erleichterten Gewissens wieder die längste Zeitspanne des Tag/Nachtgefüges genießen zu können, an dem man niemanden sehen musste. Lucia hatte tagelang wach am Ende ihres Bettes gesessen. Nur selten wagte sie sich in das weiche Bett. Ihr Zimmer erinnerte an eine etwas geräumigere Gefängniszelle. Kalt, kaum Licht, doch Lucia war das völlig egal. Sie war die meiste Zeit ihres Lebens an einen ähnlichen Wohnstandard gewöhnt. „Ich hatte viel Bekümmernis. Und dann steige ich in den Himmel und spüre nichts mehr. Nichts mehr.“, hörte sie sich selbst oft denken. Das musste sie wohl irgendwo gelesen haben. So redet doch keiner. Schon gar nicht sie. Ja, vielleicht hatte sie Recht, zumindest mit dem, was sie meinte. Zu einem Entschluss, einer „Lösung“ schon gar nicht. Schwierig wird es dann, wenn man die eigentliche Frage vergisst, sofern es überhaupt eine gab. So auch bei Lucia.
Sie erkundete oftmals jeden Winkel ihres faden Zimmers, ging hunderte Male in ihrem immer selben weißblauen Nachthemd, welches an manchen Stellen nach dem wochenlangen Tragen leicht vergilbt war auf und ab und glaubte immer wieder neue, spannende Details im ihrem Zimmer zu entdecken. Das waren ihre guten Tage.

Lucia hatte immer öfter Momente, in denen sie der Tür zu ihrem Zimmer ganz besondere Beachtung schenkte. Sie führte nach draußen. Ja das musste sie wohl. Wohin denn auch sonst. Wenn sie doch nur…
Es war Mittagszeit und Brandon fuhr seine Runde durch den Trakt um den Patienten ihre Mittagsmahlzeit zu bringen. Er öffnete den Schieber zur Tür mit der Aufschrift „Svetlova“, schreckte mit einem Satz zurück und ließ beinahe das Tablett fallen. Lucia, abgestützt auf ihre Handrücken, lächelte Brandon durch den Schieber hindurch an und begrüßte ihn überborden freundlich und mit einer fast peinlichen Laszivität in der Stimme, er möge ihr doch bitte die Tür öffnen, sie würde sich dafür auch erkenntlich zeigen. Brandon war jung, aber in seinem Beruf erfahren genug, um auf diesen Versuch nicht reinzufallen, schob mit dem Tablett sie und ihren Kopf zurück in ihr Zimmer und knallte mit den Worten „Mahlzeit, Frau Svetlova“ den Schieber zu.

Nicht einmal noch bei ihrem Vornamen hatte er sie genannt und jetzt lag sie wutentbrannt vor ihrem Tablett. Sie hatte es nicht geschafft. Sie stand auf, nahm das Tablett in beide Hände und kratzte mit verbissenem Gesichtsausdruck mit ihren stumpfen Fingernägeln an dessen Unterseite. Dann hob sie es über den Kopf und zerschlug das Tablett mit großer Wucht am Boden. Sie sah dem verschütteten Wasser noch ein wenig nach. Bisher hatte sie sich ausschließlich von Wasser ernährt, aber sie konnte sich nicht mehr helfen. Sie musste einfach etwas essen.  Sie zog ihr Nachthemd über ihre nackten Knie. Langsam und vorsichtig kniete sie sich zu ihrer am Boden verstreut liegenden Mahlzeit. Sie entschied sich für etwas, das ihr gut vertraut war – eine Scheibe Weißbrot. Sie hielt es hoch und führte es zum Mund. „Das würde ich nicht tun.“ meinte Jano, der seitlich hinter ihr stand und ihr wie so oft über die Schulter schaute. „Das ist wohl ein ganz schlechter Zeitpunkt für Ratschläge, denkst du nicht?“ sagte sie in die Leere und prüfte noch einmal eindringlich das Stück Brot. „Sie haben dir die Medikamente, die du immer verweigerst, in das Brot gemischt, sie wollen deinen Willen endgültig brechen, dich zerstören, von innen heraus.“ Lucia sah nur kurz im Augenwinkel hinter sich, er war tatsächlich da. Sie riss sich behutsam die Rinde der Weißbrotscheibe herunter. „Ich denke nicht, dass mich das Brot hier noch tiefer in die Scheiße zieht als ich es ohnehin schon bin. Außerdem, Jano…“, drehte sich Lucia um „… solltest du nicht eigentlich tot sein?“ Jano machte große Augen und neigte seinen Kopf, während Lucia sich wieder ihrem Brot widmete. Sie schob sich übervorsichtig ein kleines Stück Rinde seitlich zwischen ihre Zähne und ihrer rechten Backe, als es hinter ihr krachte. Jano fiel in sich zusammen und blutete aus, die Lache reichte bis zu Lucias Tablett und ihrer verstreuten Mahlzeit. „Tja Lucia, nun siehst du ja, was du hast. Naja, gut. Ehrlicherweise hab ich das sowieso immer schon kommen sehen, aber das mit Eva … hach. Damit hast du dich nun wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert, das hat sogar meine schlimmsten Befürchtungen unterschritten!“ Vincent Straco saß mit einem Sessel an der Wand lehnend und lächelte ihr zu. Er hatte wie so oft ihre volle Aufmerksamkeit. „Darf ich dich daran erinnern, dass wir beide eine Abmachung hatten, die du gebrochen hast.“ – „Ja, in der Tat, aber das ist eine zu komplizierte Geschichte, um sie jetzt einfach mir umzuhängen.“ – „Wir beide hätten mehr sein können, aber deine Ziele versteht sowieso niemand. Hast du eigentlich selbst je gewusst, was du tust? Aber eigentlich ist das ja egal, denn ich bin leider, glaube ich, immer noch dämlich genug dir wieder zu verzeihen, und mit dir einen Pakt einzugehen. Ist das zu fassen?“ Vincent Straco saß da und sah sie durchdringend an. Lucia musste sich umdrehen, noch jemand war im Raum.  „Sogar der Pfleger Brandon ist zu mächtig für dich!“, sagte Nikolaj. „Sieh dich doch um, du bist nun tatsächlich im Irrenhaus! Deine toten Eltern wären doch sicher stolz auf dich, denkst du nicht? Bitte erlaube mir eine Frage: Was erhoffst du dir eigentlich von deinem Aufenthalt in diesem Irrenhaus?“ – „Hier werden Menschen gesund gemacht, und deswegen bin ich hier...“, wimmerte Lucia und unterdrückte ihre Tränen sichtlich. „Sehen wir doch den Tatsachen ins Auge: Du hast versagt. Versagt! Uuuuh ich bin Lucia Svetlova und ich bin ein armes Mädchen, oh nein nein nein nein NEIN. Eine jämmerliche, lächerliche, selbstmitleidige Kampflesbe. Glaubst du eigentlich, dass das auch nur irgendjemanden interessiert? Du hast ganz einfach versagt. In dir selbst steckt nichts was irgendjemandem von Nutzen war oder jemals sein könnte. Und in Rom konnten wir alle Zeuge von deiner Schwäche werden.“ Lucia schossen augenblicklich einige Tränen in ihr verzweifeltes Gesicht: „Das ist nicht wahr!“ – „Ach nein? Hahaha, ja richtig, na los, na los, Lucia, dann beweise es! BE-WEI-SE ES!!!!“, schrie Nikolaj sie an, Lucia hielt sich die Ohren mit ihren Unterarmen zu.
„Du wirst sie nie bekommen, sie ist meine Tochter, versteh das doch endlich!!!“, hallte es aus Sophias mit Fängen bewährten Mund – „Ich kann es nicht zulassen. Du hast keine Ahnung, WAS sie ist! Ich werde mich besser um sie kümmern als du es jemals könntest!“ Das war der Moment, der das Fass zum Überlaufen brachte und es kam zum Kampf. Ein Kampf, den sie nie wollte, aber alles funktionierte, Lucia behielt lange die Oberhand, dutzende Male wirbelten sie umher, schossen um sich, streiften und trafen den anderen mehrere Mal mit ihren Waffen. Doch dann riss Sophia das Ruder herum. Lucia nutzte ihre Kräfte um Sophias Audi, in dem Eva saß, zu starten und gegen eine Wand fahren zu lassen. Sophia blickte entsetzt und besorgt hinter sich, es wäre Lucias Moment gewesen, jetzt saß sie am Abzug. Doch sie tat es nicht.

Lucia atmete hastig und verschreckt ein und aus, wieder am Boden kniend. Sie stand schließlich auf, und saß sich an ihr Bett-Ende, vor dem Jano immer noch blutend dalag. Es war bereits wieder Morgen. Man beschloss in der Direktion, die Patienten an diesem Tag mit einem besonderen Aufmunterungswecklied zu beglücken, Lucia würdigte die Gute-Laune-Zwangsbeschallung mit etlichen Versuchen, die in der Decke montierten Lautsprecher zu zerstören - mit Sessel, Tisch  und schlichtweg allem, was man in ihrem Zimmer vorfand. Doch es war zwecklos, die Lautsprecher waren zu gut gesichert. Erschöpft saß sie sich auf ihr Bett und versuchte zu spüren, wie sie in der Matratze einsank. Ein Morgen wie er im Buche steht, wie er eben nicht im Buche stehen soll. Und dann klopfte es. „Herein!“, sagte Lucia, sie fühlte sich einen Moment wohl und hatte den Ansatz eines Lächelns auf den Lippen. Wieder und wieder klopfte es, wieder und wieder antwortete sie mit einem recht freundlichen „Herein!“. Nach zwanzig Minuten beugte sie sich seitlich und riskierte einen Blick unter ihr Bett. Ihre fettigen Haare streiften leicht den Boden als sie das überhängende Laken hochzog und nachsah. Sie hatte eine Kakerlake erschreckt, und die Kakerlake ein wenig auch Lucia. Sie richtete sich wieder auf und versuchte wieder dieselbe angenehme Sitzposition einzunehmen wie eben. Jedenfalls war die Kakerlake nicht verantwortlich für das Klopfen. Nach einer Zeit hörte es von selbst auf. Rob war zu Besuch. Lucia war bei seinem Anblick stark getroffen. Sie unterhielten sich eine Zeit lang darüber, dass sie sie sich aus den Augen verloren haben, aber sich immer mochten. Sie schwelgten in Erinnerungen, wie sie unrechtmäßig und unverhältnismäßig Kleinkriminelle wie flüchtige Schwarzfahrer taserten und blutig schlugen, vermeintlich Drogendealer erschossen anstatt sie zu verhaften und auf ihren Patrouillen in Queens bald jeden das Fürchten lehrten, der auch nur einmal in seinem Leben im Kaufhaus ein Bonbon geklaut hat. Sie fragte nach Betty Sue, ja Rob hatte sie nicht nur geheiratet, sondern auch ein Kind mit ihr erwartet. „Was ist dann passiert?“, war Lucias logische Frage. Jede Herzlichkeit wich aus seinem Gesicht und er erklärte ihr sachlich, wie er in New York an dem Tag, als die Unsterbliche kam, Menschen aus den Gebäuden um sich springen sah, und wieder andere in seine Abteilung drangen und ihn bei lebendigem Leib zerrissen. Bei diesen letzten Worten zerriss es auch ihn in Lucias Zimmer bei lebendigem Leib in zwei Hälften und er übersäte sie mit seinem Blut und seinen Gedärmen. Lucia starrte weiterhin voller Melancholie an die Wand, vor der Rob gerade noch stand und verabschiedete sich lange bei ihm und versicherte ihm, dass sie ihn vermisst und nicht vergisst.
Wieder war es dunkel draußen und an der Anzahl der an die Wand geknallten Tabletts schlussfolgerte Lucia, dass es erst gerade Abend geworden sein musste. Früh genug zumindest, um der Abwechslung halber, ein wenig zu schlafen. Lucia entfernte die Matratze, und legte sich auf die bloßen Eisenfedern, wie sie es in ihrer Kindheit im Waisenhaus so oft getan hatte. „Du wirst schwach, glaubst du denn, das wird dir auch nur irgendetwas bringen?“, klang eine Stimme, Lucia erkannte sie nicht, wenn sie auch sehr vertraut war. „Entweder der Geist oder der Körper muss funktionieren“, dachte Lucia laut. „Ich bin jetzt müde. Gute Nacht!“ – „Gute Nacht.“, antwortete Jano, der noch immer tot am Fußende ihres Bettes lag.

Sie musste tatsächlich geschlafen haben. Ihr Zimmer war nun wieder ganz leer. Sie bekam eine Visite. Ein Aufgebot von sechs Kitteln mit Namensschildern, vermutlich so etwas wie „Ärzte“, einer lächerlicher wie der andere. Sie stellten sich in einer Reihe auf und musterten ihre Schreibblöcke, und rückten ihre Kugelschreiber in der Hemdtasche zurecht. Belustigt musterte sie alle, als sie merkte, dass sich niemand ihren Blick erwidern traute. Doch dann kam ein großer, breitschultriger Mann durch die Tür und alles um ihn wurde hell. Er las die Eckpunkte von Lucias Krankenakte vor und widmete sich Lucia. Sie hatte ihre Augen geweitet voller Freude. Er stellte sich als „Dr. Liam Worthington“ vor und streckte ihr die Hand aus, sie nahm sie mit beiden Händen und führte sie an ihre Wange. Sie verlor sich in der großen, weichen Hand.

Von diesem Moment an sah sie sich zurückerinnert an ihren Krankenhausaufenthalt von Prag, eine Art von Magie umgab diesen Mann, oder vielleicht blieb es einfach dabei, dass sie in seinem Gesicht nur Sarien sah und nicht Dr. Worthington. Sie betete unbewusst laut vor sich hin, was sie immer zu ihm gesagt hatte. Zuerst, dass sie froh ist, ihn zu sehen und dann wieder leicht missbilligend, dass sie es nie verstand, dass er sich um Ariel Chylde auch nur einen Dreck scherte. Immer wieder spulte sie es ab. Zuerst die willkommene Nähe, dann wieder die Abneigung. Dr. Worthington ließ Lucia mit seiner Hand gewähren und diktierte seinen Hilfsärzten die Zwischendiagnose und weitere Maßnahmen. Lucia durfte sich freuen, sie hatte Fortschritte gemacht; und da sie niemanden anschrie oder versuchte zu verletzen, würde sie nun ein neues Zimmer bekommen.

Sie verlor kaum einen Gedanken daran, wie lange sie nun in ihrem Zimmer, das eher einer Zelle glich, verbracht hatte. Ihr neues Zimmer war um ein Vielfaches heller und freundlicher eingerichtet. Sie ließ es ab diesem Tag auch nun endlich wieder zu, täglich frische Wäsche zu tragen. Gedanklich ging sie immer wieder den Weg von ihrem alten in ihr neues Zimmer, den sie tags zuvor mit den Pflegern bei ihrem Umzug gegangen war. Es war etwas viel für sie, und musste das Erlebte erst einmal gedanklich verdauen. Sie fasste wieder und wieder zusammen, was sie alles bemerkte. Die Oberfläche der Fliesen am Flur, den Lichteinfall von den Zimmern, die Frau, die schräg gegenüber ihr untergebracht war und entspannt Kreuzworträtsel löste, und dann die Stimmen der Pfleger aus der Teeküche am Ende des Flurs. Als Willkommengruß in ihrem neuen Zimmer wurde sie von einer Pflegerin vollgelabert. Sie konnte den Klang ihrer Stimme noch bevor sie ihren Mund öffnete nicht leiden. Sie konnte auch keine ihrer tausend Fragen beantworten, sie war fixiert auf sie und ihre immer lauter werdende grässliche Stimme. Mit jedem Wort war sie immer mehr von einem Brennen belegt, einem Feuer, heißer Sonne und Staub. Ein Wolf heulte auf dem Dach eines dreistöckigen Lehmgebäudes auf, blickte suchend um sich und fixierte Lucia. Sie musste augenblicklich fliehen. Sprung um Sprung, jedes Hindernis, das sie meisterte, jedes Schlupfloch, das sie fand und hindurchkroch half nichts – er kam mit jedem Satz näher. Er packte sie und zeigte ihr ihn, wie er sich mit Ariel Chylde vergnügte. Er fixierte seinen Blick auf Lucia und zog dabei genüsslich Ariel Chylde aus, warf sie auf ein Bett und rammte seine Hüften mehrmals heftig in die von Chylde, die mit großer Lust aufschrie. „Sie her, Lucia, das alles konnte ich mit dir nicht machen, SIIIEEEH HEEEER!!!“

1988. Volkswagen. Blutzuckerspiegel.

Als Lucia wieder zu einigermaßen klaren Gedanken kam, war sie im großen Gesellschaftsraum der Anstalt. Sie fragte sich, wieso sie immer wieder an die Worte „1988“ … „Volkswagen“ und „Blutzuckerspiegel“ denken musste. Schräg gegenüber von ihr nahm ein eigentlich erbärmlich aussehender, aber stolz posierender Herr Ende Vierzig mit Halbglatze Platz, der glaubte, er sei Konzertpianist. Er breitete seine Tastatur aus, richtete seinen imaginären Frack und begann auf dem Tisch zu spielen. Lucia sah dem Schauspiel eine Zeit lang zu und fühlte sich dadurch stetig besser. Weiter rechts saßen in einigen alten, aber gemütlichen Sofas die meisten anderen in dem Raum und sahen fern, als hätten sie davor noch nie ferngesehen. In einem Sessel dahinter, saß eine ältere Frau mit übergroßen, veralteten Brillen und zerstörter Frisur und sagte im Zwei-Minutentakt irgendwelche Worte wie „Wäscheklammer“, „Ellenbogen“, für die sie von den anderen begeistertes großes Lob bekam. „Wie weißt du das nur immer, Daphne?“, fragte einer. „Ich weiß eben alles!“, lächelte sie zufrieden zurück und saß sich noch ein wenig gerader in ihren Sessel. Lucia verzog keine Miene. Gegenüber von ihr nahm eine hübsche Frau Platz, die ein Kreuzworträtsel mitbrachte und begann, es eifrig auszufüllen. Lucia zählte eins und eins zusammen und kam zu dem Schluss, dass es die Frau sein musste, die im Zimmer schräg gegenüber von ihr lag und immer Kreuzworträtsel löste. Lucia legte ihre Hände auf dem Tisch übereinander und beugte sich runter, um so ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Im Vergleich zu dieser Frau wirkten plötzlich alle noch einmal um vieles verrückter. Sie schien irgendwie nicht hier hin zu gehören und das fand Lucia sehr interessant an ihr. Lucia fuhr sich hinter vorgehaltener Hand über ihre spröde gewordenen Lippen und fragte sie, ob sie sich nicht auf der Toilette treffen konnten. Sie ließ ihren Blick von ihrem Rätsel zu Lucia hin abschweifen und musterte sie mehrmals. Der Moment war unnatürlich lange, Lucia bekam das aber kaum mit. Kurzerhand willigte sie ein.
Lucia wartete bereits auf der Toilette und als die Frau hereinkam, drückte Lucia sie mit ihrem ganzen Körper gegen die Wand und schob ihre Zunge in sie, sich selbst an ihrem schnellen Atmen erregend. Ihr Kuss wurde eher resignierend als ehrlich erwidert. Lucia ließ sie los und fragte zweifelnd. „Wie war ich?“ – „Nicht besonders!“ – „Ich weiß, ich hab mich auch nicht bemüht.“ – „Tja, es hat mich trotzdem gefreut. Ich heiße Irena.“ Sie reichte ihr die Hand, Lucia sah sie kurz an, nahm sie und schüttelte sie unpassend intensiv. „Ja, genau…hallo.“, sagte sie. Irena zog ihre Augenbrauen hoch und zog ihre Hand aus Lucias fest schüttelnden Griff und fragte: „Und  du?“ – „Ich äh… mich hat es auch gefreut, ja…äh…“ – „Ich verstehe schon, du musst dich nicht vorstellen.“ Der Unwille Lucias, ihren Namen zu nennen tötete die Chance auf eine längere Konversation. Dennoch tat es gut, eine ansatzweise Unterhaltung mit jemandem zu führen, der nicht entweder psychisch krank oder auf psychisch Kranke geschult war. Sie gingen zurück in den Aufenthaltsraum und dabei erzählte Irena ihr, dass sie schon seit Langem hier sei und es wahrscheinlich noch eine Zeit lang sein wird, sofern nicht etwas passiert. Die Unterhaltung wurde untermalt von Quizmaster-Stimmen aus dem Hintergrund. „Uuuund die richtige Antwort lautääääät…!“ – „…Volkswagen!“, streute Daphne selbstsicher in die Runde. „VOLKSWAGEN!“, drang es aus dem Fernseher. „Daphne, du bist so intelligent!“, sagte wieder ein anderer aus der Runde. – „Ich  weiß eben alles“, entgegnete Daphne wieder. „Wahnsinn!“ „Sie ist einfach die klügste von allen!“ „Prächtig!“ „Wie macht sie das nur?“, redeten alle durch einander. „HAAALTET DIE KLAAAAPPPEEE!!!! Der größte Vollidiot der Welt kann diese Scheiß Fragen von dieser Scheiß Quizshow beantworten, denn das ist eine gottverdammte Videokassette!!!! Ihr schaut diese Scheiß Sendung zum hundertsten Mal!!!!“, ungläubige, entsetzte und verängstigte Blicke ruhten auf ihr. Lucia versuchte sich, zu beruhigen, es hatte ja ohnehin keinen Sinn. Lucia fragte, immer noch stehend, den unbeirrt spielenden Luftpianisten mit immer noch stark genervtem Ton: „Und Sie?!! Haben sie eigentlich schon mal ein echtes Klavier gesehen?!!!“ – „Klavier?“, erwiderte er entrüstet „Ich muss doch sehr bitten, meine Gnädigste! Das ist ein Cello.“

Körperlich ging es bergauf mit Lucia, sie aß regelmäßig und regelmäßig viel. Visiten machten ihr nicht mehr viel aus, und so ließ sie sich auch die Leibesvisite von Frau Dr. Swift in ihrem Zimmer gefallen. Mit Lucia war unter normalen Umständen noch immer kaum eine brauchbare Unterhaltung zu führen, das bekam auch Dr. Swift erstmals an diesem Tag mit. Die Routinefragen der Ärztin beantwortete Lucia mit der Frage, ob sie sich in Dr. Worthington verschossen habe. Gelassen wies Dr. Swift die Vermutung zurück, zeigte auf ihren Ehering an ihrer Hand und beteuerte, mit ihrem Mann glücklich zu sein. „Sind Sie das wirklich? Denken Sie wirklich, ihr Mann liebt sie noch? Was macht Sie denn so sicher, dass er sie liebt, oder dass sie auch dasselbe für ihn fühlen? Ich habe doch gesehen, wie sie ihn ansehen, wie sie auf seine Anmerkungen lächeln, ihr Haar zurückstreichen, sobald er in Ihre Nähe kommt!“, wurde Lucias immer lauter und penetranter. Lucia verwendete ihre empathischen Kräfte. Wirkungslos. „Das ist alles frei erfunden, Frau Svetlova, und das wissen Sie. Sie reden hier von Liebe und doch sind Sie hier. Haben Sie denn jemanden, Frau Svetlova?“ – „Ich habe mich dazu entschieden, allein zu sein.“ Lucia schluckte. Sie sank traurig ihren Blick.
Allein. Sie selbst. Das musste es sein. Nur da würde sie es finden. Sie brauchte niemanden anders dazu.
„Ich will Dr. Worthington! Sofort! Bitte!“ – „Das werde ich sofort veranlassen“, antwortete Dr. Swift und verließ den Raum. In dem Moment sprang Lucia auf und riss ein längliches Stück von ihrem Leintuch und band deren Enden um ihre Hände. Die Tür öffnete sich wieder und da kam schon ein Pfleger herein. Nervös und noch ein wenig unbeholfen sprang Lucia auf den Rücken des armen Pflegers und würgte ihn mit dem Leintuchfetzen bis seine Knie nachgaben. Sie zerrte ihn an den Heizkörper, an dem sie ihn festband. Er gab noch immer ungewünschte Laute von sich, also riss Lucia von dem Stück, das ihn würgte und an den Heizkörper fesselte, etwas ab, stopfte es in seinen Mund, schmiegte sich an die Innenseite des Türstocks und lugte hastig auf den Gang. Noch war niemand zu sehen, aber sie konnte Schritte hören. Sie wusste noch, wie sie zumindest aus diesem Trakt kommen würde, also kroch sie die ersten Meter bis vorbei an der Teeküche die Stufen runter. Sie musste sich neu orientieren und stand vor einem ganz ähnlichen Flur wie im Stockwerk darüber, durchtrennt aber durch eine teilweise transparente Sicherheitstür, die offen stand. Sie wurde entdeckt! Ein Wächter veranlasste sofort das Schließen der Tür, zwei andere versuchten sie abzufangen. Lucia rannte mit allem, was sie hatte, auf die Sicherheitstür zu, wich dabei den Händen der Sicherheitsleute aus und rutschte mit Schwung auf ihrem Nachthemd noch im letzten Moment hindurch. Sie kam in einen Raum, der zur Gesamtüberwachung mehrerer Trakte diente. Überwachungsbilder überall. Sie klopfte wie wild mit der Faust auf die Armaturen, und hatte damit wohl die eine oder andere Kamera ausgeschaltet. An der Wand hinter ihr war ein Lageplan eingezeichnet, den Lucia versuchte, sich einzuprägen. In der Zwischenzeit war die Sicherheitstür wieder dabei, sich zu öffnen und ein halbes Dutzend Wächter rannte, um sie aufzuhalten. Sie musste hier raus, ihr Blick schwenkte zu ihren Verfolgern, zum Lageplan, zu ihren Verfolgern, zu einem schmalen Fenster über ihr, wieder zu den Verfolgern, zum Lageplan, zu einem Sessel, zum Fenster, nahm den Sessel und versuchte mit dessen Fuß das Fensterglas zu zerstören, doch es war dreifach verglast. Als wäre der Teufel hinter ihr her, rammte sie immer schneller das Holz gegen das Glas. Es war zerstört. Sie sprang leichtfüßig hinauf und rollte sich durch das Fenster, schnitt sich aber an Bauch, Brust, Rücken und Füßen an den Splittern auf. Sie konnte, als sie aufstand, noch eine Hand an ihrer Seite spüren, derer sie sich entwand. Wenn sie ihre Sinne nicht täuschten musste sie nun aber hinauf, um über Stiege A Korridor B nach draußen zu gelangen.Sie nahm den Weg über den Wäscheschacht nach oben, kletterte durch die Öffnung der Schmutzwäsche hinaus, jedoch nicht unbemerkt. Die Wäschedamen aber waren zu perplex, um sie aufzuhalten und sahen Lucia stattdessen zu, wie sie verunsichert bei deren Anblick ihr Nachthemd abstrich und dann zielsicher durch das Fenster nach draußen stieg. Viele Möglichkeiten boten sich ihr nicht. Keine Dachrinne, keine Fahnenstange, nichts. Nur Efeu. Lucia vertraute Mutter Natur blind und wurde nicht enttäuscht. Der irische Efeu hielt ihrem Gewicht stand. Freudig ungläubig atmete sie auf und sah sich um. „Hier lang!“ Sophia hockte seitlich mit einem ausgestreckten Bein an der Mauer und deutete auf ein Fenster, das rechts vor ihr war. „Äh, was?“ – „Na komm schon!!“, trieb Sophia sie an. Lucia folgte ihren Anweisungen und nahm das Fenster, das Sophia ihr riet. Wieder war sie im Gebäude. Wieder war sie an einem Flur angelangt. An seinem Ende stand Mikael, der sie anfeuerte und ihr den Weg über das Treppenhaus nach unten wies. Lucia rannte noch immer, ihre Kraftreserven schwanden aber langsam. Die letzte Abzweigung wies ihr Nikolaj an, kopfschüttelnd und immer wieder hinter sich blickend wankte sie die letzten Meter bis zum Ausgang. „Frau Svetlova!“, rief ihr Brandon, der Pfleger, hinterher. „Sie wissen doch, ich kann Sie nicht rauslassen!“ – „Brandon, mein Süßer, du musst mich gehen lassen, du verstehst das nicht. Ich werde hier nicht gesund.“ – „Was nicht verstehen? Ich bin für Sie verantwortlich! Kommen Sie!“ – „Brandon…“, senkte Lucia ihre Stimme. „…du musst mich einfach gehen lassen.“ – Er hielt lange inne. Dann zuckte er hilflos mit den Schultern: „Gut, ok, Frau Svetlova, ich lasse Sie gehen,… aber nur wenn Sie mir versprechen, dass Sie auf sich selbst aufpassen können.“ – „Natürlich Brandon, selbstverständlich…sicher!“, antwortete Lucia unsicher. Sie ging ihm zugewandt rückwärts auf den Ausgang zu und hauchte ihm verzweifelt tausend Dank zu. Sie wollte die Ausgangstüre öffnen, doch sie war versperrt. Ungeduldig versuchte sie wieder und wieder die Tür zu öffnen, doch es war ihr nicht möglich. „…auf sich selbst aufpassen…?!“, durchhallte es den gesamten Flur. Ketten legten sich um die Türe und in Sekundenschnelle um den gesamten Ausgangsbereich und dunkelten ihn ein. Als erlebe Lucia ihre persönliche Sonnenfinsternis, sah sie sich selbst, mit Ketten in ihren Händen den Ausgang versperrt haltend. In schwarz-blaue, enge Kleider gehüllt, tiefe Augen, schwarze Haare, ein einziges – sich über den Körper erstreckendes und ihn umzüngelndes – Mahnmal. „…das konntest du doch auch nie. Ich denke, du bleibst nun schön hier, denn ich bin noch nicht fertig mit dir!“ – „Und wie ich das kann, ich werde nun durch diese Tür gehen und DU wirst mich nicht daran hindern.“ Lucia ging in sich und holte ihre Kräfte hervor. Nichts. Ihr Ich lachte leise aber durchdringend. „Ich werde mit jedem Tag, mit jeder Stunde, mit jeder Minute und jedem Moment stärker!“ – Lucia richtet sich wieder auf. „Dann habe ich eine Nachricht für dich: Denn ich werde es auch.“ – „Dummes Gewäsch! Du merkst doch selbst wie dich alle deine Kräfte verlassen… Und das, was du nun vorhast, wird dir nichts nützen, ich werde dich bis ans Ende der Welt verfolgen!“ – „Und dort lasse ich dich!“, quälte sie sich um jedes einzelne Wort. Lucias Ich lächelte bösartig und wandte sich von ihr ab. „Du wirst mir gehören!!!“, hallte es wieder durch den Gang, an dessen Ende dutzende schnelle auf sie zukommende Schritte zu hören waren. Lucia sah sich noch einmal um, die Ketten waren gesprengt, sie hatte freies Geleit. Sie rannte in ihrem Nachthemd nach draußen in den Regen und die anbrechende Nacht.

Akt II

Hier war die Nacht heller und der Himmel näher an der Erde als überall anders, das Sternenmeer erhellte den schwarzen Himmel und milchige Streifen in grün und blau vervollkommneten ihn. Darunter, am Boden, auf der Erde bot sich das umgekehrte Bild. In der Nacht war es als nichts anderes zu beschreiben als ein großes, weißes Meer, nur vereinzelt durchbrochen von dunklen Punkten und Strichen: schroffe, schwarze Felsen, allein stehende Bäume oder Flüsse, die wie Adern die Erde durchzogen. Einer dieser Punkte war erst vor wenigen Tagen hinzugekommen. Das schwarze Zelt machte den Eindruck, als hätte es, halb verschüttet vom Schnee, sich schon mit der Erde verbunden. Der Wind peitschte unablässig gegen die Zeltwand. Lucia war bereits auf beiden Seiten wundgelegen, sie konnte in dem kleinen Zelt kaum sitzen, und auf dem Rücken wollte sie nicht liegen, sie dachte es würde ihr zu viel Angriffsfläche bieten. Sie atmete stetig durch die Nase ein, und durch den Mund wieder aus, um den warmen Dampf nachzusehen, wie er in der kalten Luft verschwindet. Sie versuchte so, davon abzulenken, dass sie bis in Mark und Bein vor Kälte zitterte und ihrem Atemrhytmus unerwünschte Impulse gab. Am Ende des Zeltes, sozusagen am Eingang saß Lucias Ich weit ausgestreckt. Alles um sie herum war größer, die Variable Raum schien sie zu beherrschen und ganz nach ihren Wünschen zu formen. Und um Lucia war alles klein und eng, so wie sie es wollte und wie sie sich zuweilen wohl fühlte. Doch ihre Hoffnungen waren falsch, ihr Ich würde nicht in das Zelt hineinpassen. So grotesk ihre Begründung auch war, sie konnte und durfte rein gar nichts unversucht lassen. So hilflos und lächerlich es nach außen auch scheinen mag. Ihr Ich begann, ihr gekünstelt leise wispernd eindringlich zuzureden, dass auch die Flucht in diese Einöde ihr nicht die erhoffte Rettung sein würde. Lucia begab sich in einen tranceartigen Zustand, in dem sie glaubte, die hässlichen Worte ihres Ichs würden an ihrem fast gänzlich zerstörten psychischen Panzer abprallen. Verließ sie ihn und kam sie wieder zurück, spürte sie jedoch umso mehr, wie ihr Geist noch tiefer in ein unendliches Meer aus Schwärze und Nichts, dann wieder elektrisierend und blau glimmend getaucht war. Es schmerzte sie. „Soll ich dir zeigen, wie alles begann?“ Lucia öffnete ihre Augen und richtete sich seitlich auf. Ihr unteres Kreuz krachte und sie verzog ihr Gesicht als würde sie schreien. „Zeig es mir!“

Drei Teile

Sie sah, wie Ariel Chylde, damals noch eine junge, attraktive und unverdorbene junge Dame in der Maschine nach Europa saß. Dann der Absturz. Hunderte Male hatte Lucia es gesehen, sie kannte jedes Detail, war ein Teil von ihr geworden, seit dem Tag des Einbruchs in die CIA in Los Angeles vor mehr als zwölf Jahren. Doch sie sah nun mehr. Sie sah, dass da etwas war, am Himmel hinter dem abgestürzten und verbrennenden Flugzeugwrack. Es waren drei Teile, kaum erkennbar und fassbar. In Schwarz und Blau aufblitzend sah Lucia eines dieser Teile deutlicher als die anderen, es war ihrer. Das zweite konnte sie kaum mehr erkennen geschweige denn beschreiben. Dann schossen ihr Bilder des Hauses Garres durch den Kopf. Vom dritten erkannte sie rein gar nichts mehr. Sie konnte nur ahnen, was dieser Teil war und wohin er gelangte. Fest stand: an diesem Tage, als sich ein Unsterblicher in Ariel Chylde bei einem Flugzeugabsturz wieder zusammensetzte, verlor er drei Teile; drei Essenzen seines Daseins. Das Bild hallte eine Ewigkeit nach.

Lucia hatte vom Kopf bis zu den Zehenspitzen ihre gesamte Kleidung vollgeschwitzt. Sie richtete sich auf und fuhr mit ihrem Unterarm über ihren Kopf. Ihre Jacke, die sie übergestreift hatte,  nahm kein Bisschen von ihrem Schweiß auf. Sie griff nach ihrem Rucksack und durchwühlte ihn nach etwas Trockenem und wischte sich mit dem gefundenen Handtuch ihr Gesicht ab. Sie sah sich ein wenig in ihrem Zelt um und suchte nach etwas anderem, von dem sie selbst nicht genau wusste, was es war. Sie hob alles Mögliche, suchte und suchte, sah nach rechts und nach links und dann erschrak sie urplötzlich - sie hatte gar nicht bemerkt, dass es bereits Tag geworden war. Und windstill. Auf allen Vieren drehte sie sich im Zelt um und öffnete den Reißverschluss. Ihr erster Blick galt nur dem Himmel. Nicht nur graue Formationen waren zu sehen, helles Blau durchfuhr das triste Grau. Es musste schon länger Tag sein, und doch wirkte alles noch wie ein sanfter, langer Morgen. Sie senkte den Blick, wendete ihn nach links. Unweigerlich machte sie mit leicht geöffnetem Mund und weit geöffneten Augen einige Schritte auf das, was sie erblickte zu. Vor ihren Augen breitete sich eine märchenhafte Naturlandschaft aus, mit einer solchen Schönheit, die sie noch nie in ihrem Leben zu Gesicht bekommen hatte. Man hatte von dem Felsen aus, auf dem sie ihr Zelt aufgeschlagen hatte, eine dutzende Kilometer weite klare Sicht. So viele Details, so viele Einzelheiten an einem unberührten Landstrich, die alle dorthin gehörten wo sie waren, niemand außer Mutter Natur allein sollte das im Laufe der Jahrmillionen ändern können. Hinten taten sich einzelne Berge auf, jeder für sich ein Gemälde, und noch weiter dahinter, am Horizont, da musste wohl gerade ein leichtes Schauergewitter niedergehen. Ein Fluss, er musste noch sehr jung sein, erbaute sich in der Mitte des Bildes zu einem schlängelndem See, der sich dann später wieder unscheinbar und schmal den Weg durch die gras- und moosbedeckte, leicht hügelige Ebene bahnte. Immer wieder ragten willkürlich wenige Felsen und Steine aus der grünen Haut der Erde heraus. In einigen Winkeln blieb der Schnee der letzten Tage liegen, doch die warmen Quellen unter der Oberfläche ließen das meiste davon binnen weniger Stunden schmelzen und in die Erde übergehen. Dünne, auf den ersten Blick kaum erkennbare Sonnenstrahlen durchbrachen dort und da die Wolken. Ihr war zum Weinen. Nicht im Traum hatte sie es sich so schön vorgestellt. Sie wollte einen Moment ein Teil dieser Natur sein. Unscheinbar schön und unspektakulär, aber mit einer fest verankerten unumstößlichen Kraft. Sie schnürte sich die Schneeschuhe für den Weg bis ins Tal um, packte ihre Ausrüstung und riss ihr Zelt ab. Sie genoss jeden Schritt, den sie tat, jeden Atemzug, mit dem sie ihre Lungen der reinen, kühlen Luft füllte. Wieder und wieder drehte sie sich nach allen Seiten um, versuchte die Szenerie zu so zu erfassen dass sie für immer bei ihr bleiben möge.  Kein Weg war auszumachen, das Gelände stand ihr frei, und so passierte sie auf ihrem Marsch Geysire, erloschene Vulkane und auslaufende Gletscherzungen. Ihrem Gefühl nach konnte sie nicht mehr weit weg sein von ihrem Ziel, einer privaten Unterkunft für Forscher. Dann ließ sie etwas wie angewurzelt dastehen. Es war ein großer Stein, der völlig allein gelassen wirkte. Seine Oberfläche war zur Hälfte von Moos bedeckt und auf dem Moos wuchsen seltene, kleine hellgrüne Pflanzen, denen der Tau auf ihren Schultern lastete. Links davon war eine Schlucht, gute siebzig Meter tief, und geradeaus davor ein war ein kleiner Berg, dessen schroffe Steinfassade mit weiß-blauem Eis verkleidet war. Inmitten des Berges durchfuhr ein Höhleneingang den Berg. Welch ein magischer Ort. Der Stein schien das lebendigste in dieser grotesken Umgebung zu sein. Lucia warf ihre Ausrüstung auf den Boden, entledigte sich ihrer Jacke. Sie fasste den Stein an, grub ihre Hände in das feuchte, frische Moos, manche empfindliche Pflanzen ringsum zogen langsam ihre Knospen ein. Lucia setzte sich auf die Mitte des Steins und hielt inne. Dieser Stein war alt. Sie sah Erinnerungen in ihm. Ein Einsiedler, dessen Blüte des Lebens schon verwelkte, war hier her gekommen, vor weniger als einem Jahr. Er saß genau wie sie jetzt lange auf dem Stein. Er war hier ursprünglich her gekommen, um sich selbst zu finden. Er ging bis an den Rand der Schlucht, beugte seinen Körper nach vorne, ließ sich fallen. Sowie er die Entscheidung getroffen hatte, sich und sein Leben loszulassen, fasste er wieder neuen Lebensmut und versuchte, sich am Rande des Abgrunds festzuhalten. Die Wurzeln und die Erde, an denen er sich noch hinaufzog hielten noch einen Moment. Er zog sein Gewicht noch über den Rand und erblickte wieder den Stein. Dann rissen die Wurzeln aus und er fiel.
Lucia fühlte mit diesem Mann mit. Er hatte offenbar das gefunden, wonach er gesucht hatte; doch zu spät und in einem Augenblick, der in einer Tragödie endete. Was es war hätte sie gerne erfahren, aber sie hatte Respekt vor seinem Schicksal und vor der ureigenen Heiligkeit des Ortes. Es war ihr kaum aufgefallen, doch am Fuße des Berges war ein kleines unscheinbares Holzschild in die Erde gesteckt mit der Aufschrift "A tröll sást árið 1951". „Hier wurde 1951 ein Troll gesichtet.“, stand darunter in englischer Sprache. Lucia hatte schon davon gehört, dass in Island viele Menschen wie noch vor 1000 Jahren an Trolle, Elfen und andere Fabelwesen glaubten, und sie konnte beim Anblick des Landes leicht verstehen, warum die Menschen derart davon überzeugt waren. Ein Zauber lag über diesem Land.
Sie konnte die Unterkunft schon sehen, es war ein unerwartet großes Haus mit einer rot-braunen Holzfassade, weißen Fenstern und grün gestrichenem Holzdach, großzügig umzäunt. Zwei Geländewagen parkten daneben. Leichter Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Selbst in der Nähe des Hauses gab es keinen Pfad, also ging sie geradeaus die kleine Anhöhe hinauf, die umsäumt war von einer größeren Hügelkette. Die Hausbesitzer sahen Lucia schon von weitem auf sie zugehen, und bereiteten sogleich ihr Bett und setzten frischen Kräutertee auf. Freyr und Dagyr waren ein einheimisches Ehepaar Anfang fünfzig. Sie hatten vor Jahren das Haus, das einmal ein kleiner Bauernhof war, in eine Pension umgebaut, um in der Einöde Islands nicht zu vereinsamen. Lucia wurde freundlich aufgenommen, auch war sie nicht der einzige Gast. Zwei weitere Paare, genauer gesagt Forscherpärchen, waren ebenso anwesend. Sven und Tilla, er Geologe aus Deutschland, sie japanische Speläologin, und Roberto und Cecilia, beide Hydrologen aus Italien. Sie waren in Unterhaltungslaune, sie hatten sich gerade eine Flasche Wein geöffnet. Lucia gab sich reserviert, nahm sich aber dennoch kurze zwei Minuten Zeit für ein bisschen oberflächliches Vorstellungsgewäsch. Lucia stellte sich als Hanna Palsdottír vor, und gab an, Geologin aus Norwegen zu sein. Sie fand, sie würde eine glaubwürdige Norwegerin abgeben. Dann ging sie in ihr Zimmer, um ein wenig zu schlafen. Auch war ihr die Gesellschaft im ersten Moment zu viel und es genügte ihr zuerst, die Stimmen durch die dünnen Wände zu hören, anstatt mit ihnen im selben Raum zu sein.
Lucia krümmte sich in ihrem Bett zusammen, kauerte, wand sich. Ihr Bauch, ihr Herz, alles von ihren Schultern bis zu ihren Hüften schmerzte und war langsam so, als würde es fremdgesteuert. Sie würde keinen Schlaf finden, nicht einmal eine ruhige Minute. Je länger sie wartete, desto verletzlicher und verletzter fühlte sie sich. Bald sah sie nur noch schwarz vor Augen. Als wären die letzten hoffnungsvollen Stunden wie weggewaschen, sah sie ihr Ich in der Ecke des kleinen Zimmers sitzen, ein übertriebenes Lächeln auf ihrem eingefallenen Gesicht, elektrisch-blaues und schwarzgraues Flimmern verwischte ihren Anblick. Ketten schossen auf sie zu. Lucia sprang auf und setzte auf die andere Seite des Zimmers zur Tür, als würde sie einen alles mit sich reißenden Fluss überwinden müssen, und fiel geräuschvoll in die Tür. „Hanna, tu dir nicht weh…“ drehte sich Sven nach ihr um und schrie mit einem beschwipsten Lächeln auf dem Gesicht. Tilla sah in an und schüttelte den Kopf. „…aber du kommst genau richtig, wir haben die nächste Flasche Wein aufgemacht…“ Tilla stellte die Flasche etwas weiter weg von Sven, der sich immer noch nach Lucia umgedreht hatte. Roberto und Cecilia waren gerade vertieft in ihre Entdeckungen des Tages und starrten in ihren Laptop. Freyr und Dagyr, die am anderen Tischende saßen und lasen, lächelten Lucia sanft an, die benommen nach Worten rang. „Ich, bin wohl, meine Füße, äh, sie sind wohl vielleicht ihr wisst schon, ein bisschen, müdeee ähm, vom…“ – „Hanna!! Setz dich zu uns, das musst du dir ansehen!“, unterbrach sie Cecilia, Lucia war ihr dafür mehr als dankbar. Sie und Roberto zeigten Lucia Fotos ihrer Wasserhöhlentour des Tages, Lucia war fasziniert von dem, was sie sah. Vieles an ihrer Entdeckung in dieser Höhle war scheinbar so bahnbrechend neu für sie, dass Lucias eigentlich nichtssagenden Kommentare unter dem Fachjargon der anderen kaum auffiel. Nachdem Sven die Gruppe mit deutscher Schlagermusik zwangsbeglückt hatte, und sich damit fast mit Lucia in die Haare gekommen wäre, widmete sich Lucia Freyr und Dagyr. Sie hatten den ganzen Abend über wenig gesagt und wirkten generell so, als wäre die bloße Anwesenheit anderer schon befriedigend genug für sie. Isländer gelten überdies auch nicht wirklich als besonders offene, aber dafür tiefgründige und herzliche Leute. Lucia unterhielt sich mit ihnen über das Leben an einem so wundervollen, aber einsamen Ort, da nahm Dagyr Freyrs Hand. Lucia spürte ihre Trauer und ihren Schmerz. „Ihr habt jemanden hier verloren, nicht wahr?“, wagte Lucia zu fragen. Freyr nickte gebückt und verhalten, Dagyr umschloss seine Hände mit den ihren. Lucia blickte beschämt zur Seite und wollte ablenken und erwähnte den Stein und den Berg mit der Höhle, wo einmal ein Troll gesichtet worden sei. „Unser Sohn…“, begann Freyr dann mutig „wir haben ihn ganz in der Nähe der Trollhöhle verloren.“ – „Das tut mir so leid für euch.“, sagte Lucia zärtlich. Freyr atmete tief ein. „Aber wir finden Trost darin, dass er nun Teil Islands und seiner Mythen ist.“ Lucia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. „Trøllabundin.“ Wieder Stille. „Es bedeutet, dass seine Seele in den Stein gewandert ist. Und der Troll, der in der Höhle darüber wohnt, isst die Steine und nimmt die Seelen, die darin wohnen, in sich auf.“

Dies ist deine Stunde, oh Seele.

Als das letzte Licht ausging und es still im Haus wurde, wurde es in Lucia immer lauter. Tausende Stimmen in ihr, Zucken, Blitzen. Das Schwarz, in das sie drohte einzutauchen zog sie nach unten. Fast wahllos ergriff sie das Nötigste ihrer Ausrüstung, packte es in ihren Rucksack und verließ das Haus. Es gab nur noch eins und das sofort. Sie musste zur Höhle.
Der Aufstieg über die Eiswand nach oben zum Höhleneingang war beschwerlich und extrem gefährlich, aber der schnellste. Immer wieder war ihr schwarz vor Augen. Sie stand vor dem Eingang, nahm ihren Rucksack ab und schritt gebückt in das Dunkel der Höhle. Ihr Weg führt durch lange, schmale Wege, überall Stein und Eis. Beide nahmen tausende Formen und Formationen an. Da kam es auf allen Seiten auf sie zu. Verfolgt. Ein Schrei. Ein Grollen. Sie versuchte, sich bei jedem Schritt an etwas zu halten, wollte allem einen Rhythmus geben, an den sie sich halten konnte, um ihr das Gehen zu erleichtern. Instinktiv ging sie immer tiefer in die Höhle, immer schneller musste sie gehen, kein Zurück mehr. Für sie begann die Erde zu beben, sie hörte sich plötzlich nicht mehr atmen, erschrak, fiel, kam unter schrecklichen Schmerzen wieder auf. Noch ein Felsen, alles dumpf blitzend, diese Schreie!!!
Und dann war sie da.
Innerste Ruhe.
Sie war angekommen an ihrem Ort. Das Herz des Berges. Ein einziger, großer Eisstalagtit, der sich mit einem Eisstalagmit darunter verband, war in der Mitte und eins geworden mit der Höhle, die den Eindruck machte, als wäre man inmitten eines dunklen Eisbergs. Ein Geschenk. Langsam atmete sie aus und ihre Stimme stieß ein verstörtes, aber erleichtertes Stöhnen aus, ging fast unkontrolliert in die Knie und fiel auf die Seite.

Ein zuerst langsames, dann immer schneller werdendes, dumpfes, Dröhnen weckte sie. Lucia richtete sich auf, sie wusste, dass dieser Kampf nun unausweichlich war. Deswegen war sie hier her gekommen. Ihr Ich stand ihr gegenüber und überragte in ihrer Größe Lucia deutlich. Ungeduldig brüllte es: „Du gehörst bereits mir, du willst es nur nicht wahr haben. Doch eigentlich willst du es. Denn du bist zu schwach.“ – Lucias Brustkorb bebte bei jedem Atemzug: „Ich habe dich seit so vielen Jahren in mir. Jetzt ist es Zeit für dich, zu gehen!“ – „FALSCH! Ohne mich bist du NICHTS. Wir werden hier nun endgültig EINS. Denn nur mit mir gelangst du zu unvergleichlicher MACHT!!!“, hallte es durch den gesamten Berg. Lucia spürte wie nie zuvor den Ruf der Essenz des Unsterblichen in sich. Ketten wanden sich um sie und zogen sie zu sich. Lucia konnte sich nicht wehren, und sah an nur noch benommen an sich herunter. Mit jeder Sekunde veränderte sie sich immer mehr zu ihrem vom Unsterblichen berührten Ich. Und spürte die verheißungsvolle, düstere Macht.
„Egal, was du dann auch mit deinem Leben anstellst, Lucia. Einmal wirst du vor einer Entscheidung stehen, die dich für den Rest deines Daseins verändert.“
Lucia war wieder hellwach. Ihre Kraft war zurück. Es kribbelte ihr durch Mark und Bein, sprengte die Ketten und Lucia hob zum Gegenschlag aus. „Was du mir auch in den Weg stellst, ich werde dich zerstören. Ich. Werde. Siegen.“ Lucia trug diesen Kampf am Rande ihres Bewusstseins auf mehreren Ebenen aus, jeder psionische Schlag, den sie gegen die Essenz des Unsterblichen führte schwächte auch sie selbst. Sie musste ihren Geist, ihre Kraft in sich wieder so zusammensetzen, aufbauen, dass sie an die Wirklichkeit kam und ihn dabei noch beschützen, bevor es zu spät war. Denn die Essenz des Unsterblichen wuchs in derselben Geschwindigkeit. Sie versuchte alles, um Lucia zu beugen. Sie hetzte Mikael gegen sie. Lucias schlimmster Alptraum verkam für sie in dieser Stunde zu einer Nebensächlichkeit, sie bezwang ihn mit Leichtigkeit. Es beflügelte sie bis zur Spitze, wo ihr vom Unsterblichen berührtes Ich schon wartete. Die Welt um sie verschwand. Bis sie sich beide in die Augen sahen.
Ein einziger Schlag.
Und sie war fort.
Lucia hatte gesiegt.

Lucia erwachte. Sie richtete sich auf, sah kurz um sich und stand auf. Alles war ganz hell in der Höhle. Blaues Eis überall um sie. Ein letztes Mal sah sie Jano. „Lucia,…“ und Tränen schossen ihr über die Wangen, doch sie lächelte übers ganze Gesicht. „… ich wusste, dass du dich richtig entscheiden wirst. Du hast die Essenz des Unsterblichen in dir zerstört. Du kannst stolz auf dich sein…“ Auch er lächelte nun. Lucia wusste nicht mehr, wie es aussah, wenn er lächelte. „…aber nun bloß nicht übermütig werden. Ich kann dich nun allein lassen, Lucia Svetlova.“– „Aber es gibt doch noch so vieles, was ich von dir lernen will.“ – „Ich kann dir nichts mehr beibringen, Lucia. Dort draußen ist eine Welt, die sich gerade ganz neu für dich auf tut. Sie wird nun meine Rolle übernehmen.“ Lucia nickte. „Und ich weiß, was zu tun ist.“ Noch einmal sah sie sich Tränen vergießen, und dann verabschiedeten sie sich.
Lucia rannte voller Energie und völlig ungeduldig nach draußen. Es war Tag geworden, die Sonne schien, und sie sprang vor dem Eingang der Höhle voll Freude in die Höhe und streckte ihre Arme in den Himmel. Sie biss sich auf ihre Unterlippe und lächelte von ganzem Herzen.


Zuletzt von Pangaea am Di 14 Apr 2015, 12:20 bearbeitet; insgesamt 4-mal bearbeitet
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Beitrag von Pangaea Di 07 Apr 2015, 23:46


AKT III

New York

Es war Weihnachten und Barack Obama höchstpersönlich nahm die feierliche Wiedereröffnung des Big Apples in die Hand. Vor dem frisch renovierten und in neuem Glanz erstrahlenden Rockefeller Center war der am hellsten und kitschigsten beleuchtete Riesenweihnachtsbaum aufgestellt, den die New Yorker jemals zu Gesicht bekamen. Barack Obama eröffnete mit seinen typischen Handbewegungen und den Worten „Now we all can clearly see, and there is no doubt about us Americans: YES, …“ – „… WE CAN!!!“, vollendeten zehntausende, feiernde Menschen den legendären Satz ihres Präsidenten. Die Stimmung war unfassbar. Lucia stand mitten in der Menge und feierte mit, umarmte dabei zahlreiche wildfremde Männer und Frauen. Ihr war nach Plaudern zu Mute. Da war sie in New York an der richtigen Adresse. Nie zuvor hatte sie so am Leben der Menschen teilgenommen. Jahrelang hatte sie an diesem Ort gelebt, und doch war es, als wäre sie das erste Mal hier. „Kein Wunder!“, dachte sie sich dann. Schließlich hat sich New York völlig neu aufgebaut und dadurch natürlich verändert. Tja, und sie selbst natürlich auch. Hemmungen waren ihr langsam zum Fremdwort geworden. Und sie hatte Hunger. Warum sollte sie es sich nicht gut gehen lassen? Sie fand absolut keine Antwort auf die Frage und bestellte den größten Tisch im „Rouchillon“, einem der teuersten Restaurants der neu auferstandenen Metropole. Man hatte vom fünfundsechzigsten Stock einen himmlischen Blick auf die Stadt. Sie trug ein rotes, enges Kleid und strahlte über ihr ganzes Gesicht. Sie genoss es, bedient zu werden und war zu jedem ihrer Kellner überaus freundlich. Ihr 600 Dollar Menü kostete sie nur sporadisch ein wenig durch, denn sie wollte sich für später noch Platz für einen Hot Dog frei halten. Vier Tische neben ihr sah sie ein junges Paar, das sie schon von fern sympathisch fand. Äußerst selten in einem versnobten Restaurant wie diesem. Lucia wischte sich behutsam mit ihrer Serviette ab, stand auf und ging gerade auf den Tisch der Dame zu und stellte sich vor. Sie hießen John und Maggy. John war gutaussehend, vermutlich Mitte dreißig, und nicht Lucias Typ. Maggy war Ende Zwanzig, hübsch, hatte volles, braunes Haar und trug ein überaus stilvolles, schlichtes schwarzes Kleid. „Es tut mir ja wirklich sehr leid, aber ihr beide seht einfach so aus, als müsste ich euch kennen lernen. Ich hoffe das ist nicht zu direkt. Aber ich dachte mir HEY wird sind hier in New York und dann dachte ich mir HEY es ist gottverdammt nochmal Weihnachten!“ Es dauerte nicht lange und sie redeten, als würden sie sich schon eine Zeit lang kennen. Lucia interessierte sich für die beiden, die im Vergleich zu Lucia aber immer noch die Schüchternen in dieser Unterhaltung waren. Sie fragte sie über ihre Beziehung aus, sie wie lange sie zusammen waren, wann und wo sie ihr erstes Date hatten. Wie sie ihre Schwiegereltern fanden. Lucia merkte gar nicht, dass sie nichts über sich selbst erzählte. Bis John sie fragte, seit wann denn sie allein sei. Sie antwortete, sie wäre eigentlich immer schon alleine gewesen, von Kindheit an. Maggy & John wirkten betroffen. „Aber das ist nicht weiter schlimm, ich kenne ja nichts anderes, es macht mir nichts aus.“, beschwichtigte Lucia. Nach einiger Zeit bemerkte Lucia, dass Maggy immer öfter schüchtern auf die Tanzfläche neben ihnen blickte, romantische Musik wurde sanft über die Lautsprecher eingespielt. „Wollt ihr denn nicht tanzen?“, sagte Lucia gleich. Maggy war wie ausgewechselt: „Ja, das wäre fabelha…“ – „Nein, ich denke nicht, ich bin schon ein wenig müde. Außerdem bin ich ein miserabler Tänzer“, bremste sie John ein. „Ach was, John. Männer, die so etwas behaupten übertreiben immer maßlos.“ – „Na gut…“ rang sich John nach etwas Bedenkzeit ab. Maggy klatschte schnell und leise voller Aufgeregtheit mit den flachen Händen vor sich und zerrte John auf die Tanzfläche. Lucia lehnte sich zurück und beobachtete mit Freude und ein bisschen Wehmut die beiden Verliebten. Sie tanzten innig. John war sicherlich kein guter Tänzer, aber Maggy war das immer schon egal gewesen. Als Maggy und John gedankenverloren an ihren Tisch zurückkehrten, war Lucia weg. Sie hatte ihre Rechnung bezahlt und hinterließ ihnen eine Karte mit einem Dankeschön für die nette Unterhaltung und den schönen Abend.

Lucia bahnte sich durch einige fast leere Straßen der Stadt, ihre Schritte in den Stöckelschuhen waren schon von weitem zu hören. Es war kalt draußen und es begann wieder zu schneien, nur ihre Augen und Nase ließ sie aus ihrem Mantel herauslugen. Weit musste sie nicht gehen, um wieder in das volle Leben und die feiernden Menschenmenge einzutauchen. Für Lucia war es definitiv an der Zeit, sich zu amüsieren. Sie kleidete sich in einem kleinen Klamottenladen neu ein, das Kleid hatte sie schon nach einer Stunde so beengt, dass sie sich unwohl fühlte. Eine ausgewaschene Jeans musste her und als Oberteil legte sie sich ein weißes T-Shirt mit einer verkehrten, schwarz-weißen, an den Rändern verbrannten Amerika-Flagge darauf zu, setzte sich eine billige Weihnachtsmütze auf und marschierte schnurstracks in den nach außen hin bestbesuchten und sicher nicht gerade leisesten Club der Park Avenue zu – dem „White Elephant“.
Am Weg über die dunklen Stufen hinunter zum Mainfloor wusste sie schon, worum es an diesem Abend ging. Es wurde immer heißer und die Musik, ein Re-Mix von Weihnachtsklassikern mit schneller, grooviger, elektronischer Musik brachte den gesamten Club zum Kochen. Die Performance-Bühne wurde von kaum bekleideten Weihnachtsfrauen und Elfen perfekt choreographiert betanzt. Der Reihe nach ließen sie ihre Hüllen fallen und sprangen in die Menge, als aus dem Bühnen-Boden ein DJ-Pult herausfuhr. Der DJ legte seine erste Nummer auf, und alle waren endgültig aus dem Häuschen. Champagner floss in rauen Mengen, mehr als Duschflüssigkeit denn als Getränk, Lucia ließ sich wie einige andere Frauen in ihrem Radius von Männern am ganzen Körper bespritzen. Eine fahrbare, zwei Meter hohe Weihnachtskutsche durchquerte die Tanzfläche. Darauf saß ein professioneller Weihnachtsmann mit Glocke und Riesenmegaphon: „Ho, ho, ho!!!“, rief er ins Megaphon, während eine Tänzerin einen heißen Lapdance auf seinem Schoß machte. Auch Lucia kannte an diesen Abend absolut keine Hemmungen mehr. Es war so heiß, dass keiner der Männer seine falschen Bärte noch im Gesicht tragen konnte. Sie zog einen nach dem anderen an den falschen Bärten zu sich, und tanzte mit ihnen äußerst obszön und freizügig, in der Menge, die schon viel mehr einer Orgie glich, fiel sie aber kaum noch auf. Irgendwann hatte sie sich dann doch für einen entschieden, den sie mit auf ihre Suite im Hilton Plaza nahm. Dort ging ihre private Party weiter. Sie hüpfte und tanzte mit ihrem Fang des Abends auf dem Bett herum, verpasste ihm und sich eine weitere Champagnerdusche. Lucia und „er“ (sie hatte nicht einmal nach seinem Namen gefragt)  waren in einem Liebesrausch: sie küssten und liebten sich an der stilvoll tapezierten, weißen Wand, auf dem beheizten Teppichboden, auf dem schneebedeckten Balkon – machten also dort weiter, wo sie im „White Elephant“ aufgehört hatten.

Lucia war ihrem nächtlichen Begleiter äußerst dankbar, dass er bevor sie wach wurde das Zimmer verließ. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, und Lucia formte ihre Augen zu noch engeren Schlitzen, als sie es durch ihre Kopfschmerzen und anderen Katererscheinungen ohnehin schon tat. Schlaftrunken stand sie auf, um sich Kaffee zu machen. Auf halbem Weg wurde ihr so schwindlig, dass sie es sich kurzerhand in dem breiten, schwarzen Ledersessel gemütlich machte, von dem sie aus sie eine großartige Sicht durch die übergroße Glasfront ihres Balkons nach draußen auf den East River und Brooklyn dahinter hatte. Ihren Kaffee bestellte sie sich dann doch über den Zimmerservice. Im übergroßen Bademantel, Ray Ban Sonnenbrille und Starbucks Kaffee genoss sie den Morgen und die frische, kühle Luft, die über den leicht geöffneten Balkon nach innen drang – die Welt stand ihr so offen wie nie zuvor.
An einem so wundervoll schönen, sonnigen und ungewöhnlich warmen Tag zog es sie hinaus in die Natur, unweigerlich. Zwei volle Tage in der Stadt und die Luft wurde ihr schon zu dünn, also fuhr sie hinaus aufs Land, um damit auch ein bisschen das New Yorker Hinterland kennen zu lernen. Nach zwei Stunden Fahrt befuhr sie bereits eine Waldstraße, die wie leergefegt war. Lucia ergriff die Gelegenheit. Sie bremste ihren Wagen so, dass er auf einer Anhöhe mit Blick auf eine lange Gerade zum Stehen kam. Sie öffnete das Handschuhfach, nahm daraus ihre Sonnenbrille, drehte den Radio laut auf, der gerade eine fetzige Neuversion eines Bob Dylan-Songs spielte, ließ den Motor aufheulen, setzte sich die Sonnenbrille stieg mit Gewalt aufs Gas und hinterließ mit dem Brüllen des Motors und dem Quietschen der Reifen ein weithin hörbaren Aufschrei eines hungrigen Monsters. Sie forderte sich selbst und ihren deutschen Cabrio-Sportwagen bis auf das Äußerste heraus. Sie konnte von der Geschwindigkeit, den Kurven und der Gefahr, diesem Rausch, in dem sie sich bei jeder geglückten riskantem Übersteuern befand, nicht genug bekommen. Immer schneller rasten die Bäume an ihr vorbei und Lucia schrie und lachte aus vollem Hals. Sie musste ihre eigenen Grenzen wieder neu erleben, und durchquerte in einem wahnsinnigen Tempo den Wald.
Irgendwann erreichte sie einen Abschnitt, der sie an Island zurückerinnerte. Sie fuhr langsamer und versuchte sich vorzustellen, wie die Landschaft nach der nächsten Anhöhe wohl aussieht, ob vor dem kleinen Berg, der sich da in weniger als drei Kilometern vor ihr aufbaute, ein See sein könnte – sie hatte von allem eine fixe Vorstellung. Und die trügte sie nicht. Vieles bewahrheitete sich von dem, wie sie es sich vorstellte, und wie es wirklich war. Lucia parkte am Fuße eines Hügels, der eine gute Aussicht versprach, und ging barfuß auf seine Spitze. Sie füllte ihre Lungen mit der frischen, reinen Luft und sie merkte wie leichtfüßig und unbeschwert ihr Körper sich anfühlte. Ein kleiner Schauer lief ihr an der Spitze des Berges dann doch über den Rücken. Nicht etwa, weil sie wieder ein gefühlstechnisch berührendes Erlebnis hatte, sondern weil sie sich keine Jacke angezogen hatte – sie musste schnell wieder zum Auto.

Es wurde langsam dunkel und die flotte Fahrt durch den Harriman State Park hatte Lucia dazu gezwungen, bald tanken zu müssen – sie hielt an einer Tankstelle mit einem kleinen, nach außen eher schäbigen Diner. Lucia stieg aus und tankte ihren BMW. Sie krempelte die Ärmel ihrer dünnen Lederjacke hoch, setzte sich die Brille auf die Stirn, steckte den Zapfhahn in die Tanköffnung und lehnte sich gegen die Motorhaube ihres Autos. „Na, Jungs, noch nie ne Frau beim Tanken gesehen?“, fragte sie schnippisch in Richtung einer Runde von schäbigen Truckern, die vor dem Eingang herumlungerte und sie schon beim Einfahren eindringlich gemustert hatte. „Verdammte Lesbe…“, sagte einer, verzog dabei sein Gesicht, warf seinen Zahnstocher weg und betrat das Diner. Von Innen war das Diner nicht weniger schäbig, aber mit etwas, das man am ehesten mit „Charakter“ bezeichnet. „Was darf’s denn sein, Lady?“, die Stimme der schlecht geschminkten Bedienungsdame klang ungewöhnlich und gezwungen freundlich.  – „Hmmmmm...“, Lucia setzte sich an die Bar, schnappte sich die Karte und überlegte lange, am liebsten würde sie alle auf einmal essen. „…ich hätte gerne diesen eeeeh Double Sli…“ – „Hey Phil, einmal mit viel Tipi Tipi und extra drauf!“, schrie sie unnötig laut und genervt seitlich nach hinten. Lucia musste schmunzeln. „Darf’s sonst noch was sein, Schätzchen?“, lächelte sie Lucia wieder gekünstelt an. „Kaffee! Am besten ei…“ – „Bittesehr!“, unterbrach sie wieder und goss ihr lauwarmen Kaffee in ihren Becher. Lucia sah sich ein wenig um, das einfache amerikanische Leben liebte sie. Eine große Burger Karte, bei der sich die einzelnen Burgers offenbar nur durch die Soße und seine Menge unterschied, schlechter Kaffee, schales Bier. Mehr brauchte man doch eigentlich nicht. Nur zwei ruhige Bissen von dem äußerst mittelmäßigen Burger hatte es gedauert, bis ihre Nase etwas schrecklich Vertrautes erfüllte. Ein mit True Blood vollgedröhnter, breiter Mann, der schon beim bloßen Eintreten in das Diner ein mulmiges Gefühl bei den wenigen Gästen auslöste, ging an Lucias Rücken vorbei und setzte sich breitbeinig an einen Tisch. „Was ist euer bestes Gericht?“, sein Tonfall war unfreundlich und fordernd. „Wir haben Burger“, antwortete die Bedienung gelangweilt. Der Mann schnupfte einmal laut, schüttelte unkontrolliert seinen Kopf und antwortete: „Dann nehme ich einen Burger!“
Lucia war der Appetit vergangen, aber sie aß so lange, bis sich der Mann zur Toilette aufmachte und folgte ihm. Lucia machte keine Anstalten, von ihm unbemerkt zu bleiben, schloss hörbar die Tür und stellte sich drei Meter hinter ihn. Er hatte Mühe, auf den Beinen gerade zu stehen, und benötigte unwahrscheinlich lange, um seine Hose zu öffnen, bis er sie dann doch bemerkte. „Ich würde es bleiben lassen an deiner Stelle.“, versuchte Lucia es diplomatisch. Keine Antwort. „Das was du dir da reinziehst, davon rede ich.“ – „Wäääoooo wovon redest du, wa…?“, lallte er und drehte sich langsam um. „Sieh dich an, du Elend. Scheiße, du merkst gar nicht, wie du damit dein verdammtes Leben weg wirfst.“ Er ging auf Lucias Vorwürfe nicht die Bohne ein – er überhörte sie wohl vielmehr. Er musterte sie von oben bis unten und wurde dann mit einem Moment wach „…aaahh ich versteh schon, du bist hier wohl neu.“ Lucia verstand nicht. Und wurde noch mehr überrascht, als er sie plötzlich in einem TrueBlood-Adrenalin-Schub am Kopf und den Schultern packte und zu seiner offenen Hose herunterdrückte. „Du kleine Hure!!!! Na, gefällt dir das?!“ Der Geruch von altem Urin stieg ihr in die Nase. Er wollte es nicht anders. Lucia kickte ihm mit ihrer Ferse ins Gesicht, er schrie laut auf, und löste seinen Griff. Sie richtete sich auf, schlug ihn mit der Faust nochmal ins Gesicht, nahm ihn am Kragen seiner stinkenden Jacke und drückte ihn mit Schwung gegen die Kloschüssel. Der Mann war benommen und Lucia hielt ihn in einem Würgegriff, während sie mit ihren empathischen Kräften sein Inneres betrat. Sein Name war Hank. Hatte Frau, keine Kinder. Hatte fixen Job. Nahm das erste Mal True Blood und kurz darauf verkaufte er Haus. Erschien nicht mehr zur Arbeit. Wurde gekündigt. Kaufte sich Truck. Immer mehr Geld brauchte er für True Blood. Und verkümmert innerlich und äußerlich. Frau verlangte Scheidung. Er verkaufte den Truck und arbeitet nur noch als Leasingarbeiter. Häuft Schulden an. Zuletzt auch bei seinen wenigen verbliebenen Freunden. Lucia hielt ihm seine Abwärtsspirale in allen Details noch einmal vor Augen und löschte in ihm das Gefühl des Glücks, das er bei jedem Schuss True Blood empfand. „Das ist nicht, wie dein Leben sein hätte sollen.“ Lucia nahm seinen blau-violetten, zerstochenen Arm und drängte die letzte Dosis True Blood aus den Einstichen. „Aber noch ist es für dich nicht zu spät.“ Er schrie wieder auf als die Droge seinen Körper verließ, wollte sie unter Schmerzen festhalten. Dann klopfte es wild an der Tür: „Hey Hank! Was machst du da drin? Alles klar bei dir?“, sagten einige Stimmen. Lucia hatte mit ihren telekinetischen Kräften im letzten Moment die Tür verschlossen und forderte Hank auf, sie wegzuschicken. „Ja, sicher! Macht euch vom Acker!“, rief er. Lucia ließ langsam ihren Griff los, stellte sich wieder vor ihn und warf ihm Geld vor die Füße. „Das wird dir aus dem Gröbsten heraushelfen.“, sagte sie ruhig. Ungläubig, am Boden liegend, mit dem Kopf an die Kloschüssel gelehnt, hustend fragte er leise „Warum hilfst du mir?“ – „Es muss einen Anfang geben. Ich möchte, dass du, wenn du hier rausgehst, dein Leben in den Griff kriegst und anderen, die abhängig sind hilfst, von dieser Scheiße wegzukommen.“
Nachdenklich war die Fahrt zurück nach New York und in ihr Hotel. Es hatte sich nichts geändert. Jahrelange, harte Arbeit gegen diese Drogenseuche war vollkommen sinnlos gewesen. Lucia beschloss aber fest, es dabei zu belassen – sie konnte sich in Bezug auf True Blood ja wahrlich nichts vorwerfen. Im Zimmer nahm sie sich wieder einen Moment der Ruhe und Zerstreuung. Sie saß lange in ihrem breiten Ledersessel, sah ein wenig Football und sinnlose, peinliche Late Night Shows, in denen die eingeladenen Stars tatsächlich sehr authentisch so tun, als hätten sie gute Laune und Spaß. Sie drehte den Fernseher ab, bereitete sich einen Drink und nippte ein wenig daran. Mitten im Raum stand sie mit ihrem Drink in der Hand und überlegte einen Moment. Dann ging sie zur Kommode zwischen den gläsernen Balkontüren und nahm das Telefon in die Hand. Es klingelte lange. „Lucia...“ – „Es klingt ein wenig so, als wärst du überrascht…“ – „Nein. Aber ich habe mich manchmal gefragt, wann es soweit sein würde.“ – „Wir müssen uns treffen!“


AKT IV

Silvester, Kap der Guten Hoffnung

Die Nacht war hell und sternenklar und das Meer am Kap der Guten Hoffnung ruhig an diesem Abend des Jahreswechsels. Fern am Horizont schien sich langsam etwas zusammenzubrauen. Lucia saß an der Klippe, von wo aus sie den sanften Wellengang, der an den kleinen Strandabschnitt vor ihr strich, beobachtete. Er ist verspätet. Lucia hatte Zeit. Immer wieder blickte sie hinter sich auf den Pfad, von dem aus sie hergekommen war. Da sah sie unten etwas im Meer auftauchen, in schwarz gehüllt. Er musste es wohl sein. Als hätte er alle Zeit der Welt legte er seine Taucherausrüstung ab, packte sie in ein Netz und ließ sie an einem meterlangen Seil, das er an einem Felsen vertäute zurück ins Meer treiben. Im Taucheranzug ging er dann zu Fuß über Umwege zu Lucia hinauf, die ihr Schmunzeln nicht verkneifen konnte: „Du gehst wohl auch unter dem Radar noch immer doppelt auf Nummer sicher!“ – „Wie lange ist es nun her, dass wir uns das letzte Mal sahen?“, entgegnete Nikolaj trocken. Lucia sah ihn nur an, er wusste es ja ohnehin. „Viel ist passiert seit Rom und du von der Bildfläche verschwunden bist. Viel Gutes war nicht dabei.“ Nikolaj erzählte ihr alles, was in den letzten Monaten passiert war. Von den Ereignissen in Houston. Von der lebenden Heiligen Magdalena, die in Madrid einen Unsterblichen getötet hatte. Davon, dass die Kirche aus dem Konzil austrat und dieses nun ohne menschliche Fraktion existiert. Lucia war gerade über diese Tatsache aus allen Wolken gefallen. Sie musste sich zusammenreißen, denn sie hielt es für absolut notwendig und fühlte sich dafür verantwortlich, dass die Menschen immer im Konzil vertreten sind. Aber es war nicht ihr Problem. Nikolaj erzählt weiter von den Geschehnissen, Lucia unterbrach ihn: „Was ist mit Sophia? Irgendein Lebenszeichen von ihr?“ – „Ich habe nichts von ihr gehört.“ Lucia nickte. Nikolaj fuhr fort. „Es tut gut, dich so zu sehen, Lucia. Du wirkst zutiefst gefestigt und entspannt, deine Haltung ist aufrecht, deine Stimme stark und bestimmt.“ Lucia fühlte sich geschmeichelt. Ihre Freude über ihren eigenen Zustand hielt noch immer an. „Ich weiß nun, was zu tun ist…“, sagte Lucia kryptisch. „…und ich brauche dafür deine Hilfe.“ Man konnte sich bei Nikolaj ohnehin niemals sicher sein, was er gerade dachte oder fühlte. Er saß eine Zeit lang ohne Reaktion da, fuhr Lucia fort: „Ich werde nicht länger tatenlos zusehen, wie unsere Art abgeschlachtet wird. Zu lange habe ich die Augen davor verschlossen und versucht, es zu verdrängen. Ich will herausfinden, wer für diese Morde verantwortlich ist und ihn dafür persönlich hinrichten.“ Lucia wurde weder emotional noch laut. Nikolaj erklärte, er habe Stille walten lassen als die Attentate zunahmen, so wie es der Eid vorsieht. Es sei zu riskant gewesen, direkt dagegen vorzugehen, und er rechnete damit, dass die Situation eskalieren könnte. Lucia hatte Verständnis für ihn, sie hätte es an seiner Stelle wahrscheinlich nicht anders gemacht, dachte sie sich. Sie fragte, ob er herausgefunden hatte, wer dafür verantwortlich sei. „Ich habe einen eindeutigen, starken Verdacht. Ein Vampir, du kennst ihn, ich kenne ihn, er verhetzt die Empathen schon seit Jahren. Emilio „von Eden“ nennt er sich nun. Er hat sein eigenes Haus mit dem Namen „Eden“ für verlorene Seelenmagier, Wölfe, Vampire und sogar Menschen gleichermaßen aufgebaut. Und ist schon längst nicht nur in Europa vertreten.“ – „Damit will er wohl Sophia nacheifern.“, sagte Lucia abschätzig. „Aber er bleibt nach außen hin weitestgehend neutral, hält sich von allem heraus…“ – „…und sitzt nichts tuend in einer schäbigen Kapelle in Turin…“, unterbrach Lucia ihn zweifelnd. Sie atmete überlegt tief durch: „Glaubst du wirklich, dass das die ganze Wahrheit gewesen sein kann?“ Nikolaj wartete lange ab, schloss den Reißverschluss seines Taucheranzugs, stand auf und sagte zu ihr: „Soll ich die anderen informieren?“ – „Nein, ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist.“, antwortete Lucia. „Gut...“, sagte Nikolaj abschließen und entfernte sich.

Die Strandstadt Tampico in Mexiko hatte den Vorteil, dass es aufgrund seines tropischen Klimas immer sommerliche Temperaturen lieferte. Lucia war davon sehr angetan, sie konnte sich auch gut vorstellen, hier ein wenig länger zu bleiben, nicht zuletzt deswegen, weil sie in den letzten zwei Wochen definitiv schon zu oft geflogen ist. Die Menschen schienen den ganzen lieben langen Tag an der Sonne zu verbringen. Und wenn sie nicht die Sonne genossen, saßen sie im Café, oder spazierten. Internationaler Tourismus war hier noch nicht eingekehrt, was sich dadurch auszeichnete, dass die wirklich übergroße aber trotzdem menschenvolle Strandpromenade nicht überladen war mit Souvenirshops oder generischen Lifestyle-Food Ketten. Hier machten Mexikaner Urlaub. Und meistens die Ortsansässigen. Die Suche nach einem Friseur war aufgrund Lucias indiskutablen Spanischkenntnissen eine Herausforderung, und als sie einen gefunden hatte war es ein Bangen bis zum Schluss, ob die Friseurin auch verstand, was sie wollte. Sie wollte nichts dem Zufall überlassen, also ließ sie sich die Haare schwarz färben. Sie traf sich mit Nikolaj am späten Nachmittag beim Monumento Sirenas, einem großen Platz im Zentrum der Stadt, an dem gerade getanzt und Musik gemacht wurde. Sie feierten etwas. Nikolaj meinte, er habe eine Zeit lang in Mexiko gelebt und es gebe immer irgendetwas zu feiern. Gemeinsam aßen sie einen der würzig-scharfen Tacos, und flanierten entlang der Strandpromenade. Es wurde langsam dunkel und sie kamen am Ende der Promenade an. Hier war es. Ein heruntergekommener, schäbiger, dreistöckiger Plattenbau, die wenigen vorhandenen Fenster waren fast alle eingeschlagen. Ein großer, gelangweilter Mann mit Sonnenbrille lehnte am Eingang und rauchte. Aus dem Inneren drang Grunge und Shoegaze Musik der 90er. Das war das Haus Eden in Mexiko. Nikolaj hustete abwertend und gab dann Lucia ein Zeichen – sie würden sich im Hotel wieder treffen. Es war keine große Herausforderung für Lucia, unerkannt im Haus einzusteigen. Genau genommen würde es für niemanden eine große Herausforderung sein. Die einzige fadenscheinige Sicherheitsvorkehrung, die es gab, war der Türsteher. Lucia gelangte in ein, sagen wir, „Büro“. Dokumente und Mappen weiteren Dokumenten waren heillos durcheinander im ganzen Raum verteilt. Sie hatte es im ersten Moment nicht erwartet, aber es war tatsächlich auch ein Laptop vorhanden, den sie sofort hastig durchsuchte. Nach einigem Suchen hatte sie es schwarz auf weiß. Emilio Valerius reservierte Zimmer 104 auf den heutigen Tag. Lucia hatte, was sie brauchte und ging zurück in ihr Hotel, sie hatte mit Nikolaj beschlossen, zu warten bis es dunkel war. Außerdem wollten sie die Zeit nutzen, sich noch ein wenig zu amüsieren. Als sich Lucia in ihrem kleinen Hotelzimmer mit dem roten Tangokleid sah, musste sie lachen. Sie verließ mit Nikolaj gleichzeitig das Hotelzimmer, die nebeneinander lagen. Lucia lächelte ihn an und zwinkerte ihm lüstern zu – er hatte das Gesicht von Vincent Straco aufgesetzt. Gemeinsam gingen sie in ein verschwiegenes Tanzlokal an der Promenade, wo man anscheinend Tango bis zum Morgengrauen tanzen konnte. Lucia zeigte mit ihrem Kleid immer wieder viel Haut – so viel, dass die Tango-Musiker aus dem Takt gerieten. Nikolaj war ein begnadeter Tänzer, ihr gefiel es, wie er sie führte und sie sich die obligatorische rote Rose in ihrem Tanz mit ihren Zähnen überreichten. Immer wieder sah sie ihn ungläubig an, so real war sein Erscheinungsbild als Vincent Straco.

Es war halb elf Uhr abends und Lucia war zurück in ihrem Hotelzimmer. Sie richtete ihre nun schwarzen Haare und überschminkte ihre Tattoos am ganzen Körper. Untertags hätte es aufgrund der Hitze zu schnell verwaschen können. Nichts dem Zufall überlassen. Als sie sich fertig umgezogen hatte sah sie sich in den Spiegel – es stand ihr besser als sie erwartet hatte. Wieder verließen sie im selben Moment ihre Zimmer und war zuerst erschreckt, musste aber dann wieder lächeln. „Denkst du, das ist genug?“, fragte sie scherzhaft. „Mit Sicherheit.“ Vor ihr stand Nikolaj als ein exaktes Ebenbild von Emilio Valerius.
Das Haus war geschäftiger geworden, vor dem Eingang tummelten sich nun einige Mitglieder des Hauses, betranken sich und rauchten, im Inneren war die Musik härter und lauter geworden. „Denkst du, du schaffst sie?“, fragte Nikolaj sachlich. Lucia nickte kaum merkbar und rang sich ein selbstmotivierendes „Ja…“ ab und ging in Richtung Haus. Nikolaj verschwand in der Dunkelheit. Lucia spazierte selbstsicher auf den Eingang zu, und gab gegenüber dem Türsteher an, sich nur ein wenig amüsieren zu wollen. Ihr Outfit war an die Klientel angepasst, sie war blass geschminkt und hatte übergroße, schwarze Ohrringe und redete, als wäre sie schon leicht betrunken. Der Türsteher ließ sie durch und Lucia war in der Lobby. Die Bude war leicht verraucht und einige der jungen Männer und Frauen, menschliche und übernatürliche, schmusten miteinander zu harter Metalmusik und unterhielten sich über... naja, die meisten redeten eben Spanisch. Lucia versuchte, sich schnell in die Menge zu mischen und nahm auf einer zerschlissenen Couch, auf dessen anderen Ende es sich ein junger, nicht sonderlich gutaussehender Mann so gemütlich gemacht hatte, dass er nach außen hin jeden Moment einschlafen würde. In seiner linken Hand brannte seine letzte Zigarette langsam ab. Lucia versuchte, sich den Raum nicht allzu offensichtlich einzuprägen und regelmäßig den Eingang zu beobachten. Als ihre Anspannung anfing, nachzulassen hörte sie sie am Eingang. Sie kannte ihre Stimme, der Türsteher ließ sie ohne ein Wort passieren. Sie hörte das Geräusch ihrer Schritte, und ehe sie es sich versah, war die schwarze Gestalt ins Haus getreten. Lucia sprang ihrem schläfrigen Couchnachbar auf den Schoß und küsste ihn. Die Schritte gingen langsam und gleichmäßig weiter und dann die hölzernen Stufen hinauf, aber Lucia konnte nur zu real spüren, wie Sileenas Blick über ihren Rücken wanderte und einen eiskalten Schauer herunterjagte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Als die Vampirin vorbeigegangen war, stieg sie von dem glücklichen Mann ab, zog an seiner Zigarette und folgte Sileena.

Lucia sah ihr bei jedem ihrer Schritte nach, von Schatten zu Schatten sprang sie. Nicht ein Licht war im ersten Stock funktionsfähig. Die Zimmer entlang des Ganges waren großteils offen, sie besaßen teilweise nicht einmal eine Tür. Der Mond hing tief und beleuchtete den Korridor durch die offenen Fenster und Türen. Sileena fasste in ihre enge, schwarze Lederhose und wollte mit dem verbogenen Schlüssel das Schloss zu Zimmer 104 öffnen. Dann stockte sie und drehte sich zum dunklen Gang hinter ihr um und sagte wissend in die Leere: „Lucia Svetlova.“ – „…schön, dass du dich an mich erinnerst. Du kannst dir wahrscheinlich denken, warum ich hier bin.“ Sagte Lucia und ging langsam schreitend weiter auf sie zu. Sileena neigte ihren Kopf zur Seite und brachte ihre Hände in Bereitschaft, ihre enge Lederkluft um ihren Kragen und ihre Hände krachte leise. „Das ist unwichtig…“, sah sich Sileena einen Moment um. „…und ich muss gleich enttäuschen. Du hast nicht den Hauch einer Chance.“, forderte Sileena sie auf. „Ich habe den komischen Verdacht, dass du für die Morde verantwortlich bist. Mal sehen, ob es wahr ist…“ – „Rein gar nichts wirst du herausfinden.“, antwortete Sileena laut und direkt und machte sich für den Angriff bereit. Als könne Lucia es nicht erwarten, angegriffen zu werden ging sie noch näher auf sie zu  und schrie: „Ich werde dich verdammt nochmal bezahlen lassen für das, was du getan hast. ICH WILL WISSEN, WIE ES IN DIR DRIN AUSSIEHT,TODESHÄNDLERIN!!!!!“ Nur noch drei Zimmereingänge trennten die beiden voneinander. Lucia ließ eine psionisch-empathische Welle auf die Vampirin los. Sileena musste nur kurz zurückweichen und kam dann mit umso größerer Entschlossenheit und Verbissenheit wie ein Sturm auf Lucia zugeschossen. Lucia hechtete seitlich in ein Zimmer und musste am Boden liegend sofort wieder ausweichen als Sileenas Schwert auf sie zuraste. Lucia holte Sileena von den Beinen, wich zurück zum Fenster und griff wieder mit ihren Kräften an. Sileena verzog ihr Gesicht, schwarzes Blut lief ihr aus der Nase. Als sie das bemerkte stand sie blitzartig auf, fuhr ihre spitzen Fänge aus, umklammerte noch fester ihr Samurai Schwert und griff die unbewaffnete Lucia an. Lucia konnte vielen der Hiebe von Sileena ausweichen, doch hatte gegen ihre unwahrscheinliche Schnelligkeit immer wieder das Nachsehen. Lucia konnte nur versuchen, Distanz zu gewinnen und sie mit ihren Kräften in die Knie zu zwingen, die wenigen Faustschläge, die ihr Ziel fanden, schienen Sileena absolut nichts anzuhaben, sie im Gegenteil noch viel mehr zu beflügeln. Langsam gingen sie aneinander zugrunde. Lucia blutete aus ihren Schnittwunden, Sileena aus ihrem Gehirn durch ihre Augen und Nase. Sie beide atmeten schwer, Sileena wurde immer benommener. Lucia kam langsam in der zusammengebrochenen Kommode zu sich, in die sie Sileena geworfen hatte. Sileena stützte sich auf nur einem Arm am Boden ab, und stieg langsam auf. Zu langsam. Lucia stand vor ihr, sprang in die Luft, wirbelte herum und trat sie mit ihren Beinen in die Couch hinter ihr. Die Todeshändlerin war halb bewusstlos. Lucia fixierte sie mit ihren Augen, und schritt bestimmt auf sie zu. Langsam setzte sie sich auf Sileenas Bauch, beugte sich über sie und nahm zärtlich den blutverschmierten Kopf in ihre Hände. Die Empathin neigte ihren Kopf nach hinten, und brach ihren Geist.

Eine lange Liste von Namen. Es waren viel mehr Empathen, als Lucia befürchtet hatte. Alle ermordet von nur einer Todeshändlerin. Sie war erschüttert, viele von ihnen hatte sie selbst gekannt. Sileena war es auch, die es gewagt hatte, Lucias Waisenhaus in einen schrecklichen, mit kindlichem Blut getränkten Friedhof zu verwandeln. Kein Zweifel mehr. Sie wird dafür bezahlen.

Doch dort war noch viel mehr.
Ein schwarzes Meer aus zersetzenden Gefühlen. Es hatte diese Frau ausgehöhlt. Ihr Herz ausgezehrt, ihre Seele geschunden. Und tief unten, an dessen Grund war noch etwas, das sich Lucia nicht erträumte:
Liebe.
Jahrhunderte lange unerfüllte Liebe zu Emilio von Eden.
Uneingeschränkte Liebe war es, die sie seit 1861, als sie ihn das erste Mal in Florenz sah, dazu trieb, nie von seiner Seite zu weichen, egal was auch passierte. So musste sie mit ansehen, wie sie Eifersucht gegenüber Sophia jahrzehntelang zerfraß. Und sehnte sich immer wieder nach ihm und ein bisschen Zuneigung. Alles tat sie für ihn und enttäuschte ihn dabei nicht ein einziges Mal. In seinem Auftrag hatte sie die Empathen ermordet und empfing nicht den Hauch von Anerkennung. An Emilios Seite hatte auch sie sich von Valerius getrennt und Eden gegründet. Sie hasste das Haus, weil es sie an Sophia erinnerte, aber weil es Emilios Werk war, tat sie alles dafür. Bei Emilio stieß sie tausende Male auf … nichts. Er behandelte sie als Selbstverständlichkeit. Als nützlichen Jagdhund. Ihre Hoffnungen von ihr und ihm gemeinsam wurden immer und immer wieder von ihm zerstört. Ein Meer aus Tränen hatte sie schon geweint. Doch ihre Liebe war so groß, dass sie sie bis zu dem heutigen Tag behielt.
Lucia war zutiefst ergriffen von Sileenas Geschichte. Sie schluckte tief, beugte sich nach unten und lehnte ihre Stirn an Sileenas. „Ich gebe dir nun ein Geschenk. Du sollst nicht mehr länger mit dieser qualvollen Liebe zu Emilio von Eden leben müssen.“ Lucia vergoss eine Träne auf Sileenas Gesicht. Dann sah sie ihr noch einmal in die Augen und sagte mit ruhiger, tiefer Stimme: „Ich nehme dir die unerwiderte Liebe und gebe dir… Hass. Hass braucht keine Erwiderung. Deine Tränen, die du vergossen hast, haben keine Bedeutung mehr.“ Sileena stöhnte kaum hörbar. „Ja!“, sagte Lucia. Wieder holte Lucia tief Luft, um sich wieder voll dessen bewusst zu werden, was sie und Emilio getan haben. „Du wirst nun zurück nach Europa fliegen. Und du wirst Emilio von Eden töten. Und bevor du ihn richtest, siehst du ihm tief in seine Seele und zeigst ihm mein Gesicht.“

Lucia stieg von Sileena ab und sah mit halb geöffnetem Mund zu ihr hinunter. Sie war nun ganz bewusstlos geworden. Lucia hob Sileenas Schwert auf und warf es neben ihr auf die Couch. Dann ging sie erschöpft in den vom Mond beleuchteten Korridor zurück. Nichts war zu hören. Als sie die hölzernen Stufen nach unten zur Lobby ging, sah sie mehr als ein Dutzend Leichen am Boden, auf der Couch und im Eingang liegen. Inmitten davon stand „Nikolaj von Eden“ mit ausgestreckten Armen, schwang seinen Stock und schnippte den Hut auf seinem Kopf an, sodass er ein wenig schiefer darauf saß. Er hatte sie alle umgebracht. Lucia lief an ihm vorbei nach draußen, Nikolaj folgte ihr mit einem Lächeln. Sie sah sich kurz um und streckte den Arm nach Nikolaj aus. Dann verschwanden sie aus den Augen der Dunkelheit.
Pangaea
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